Im Jahr 2020 hatte jede vierte Person (26,7%) in Deutschland eine Migrationsbiografie. Dabei gilt: Je jünger die Altersgruppe, desto höher der Anteil der Personen mit Migrationsbiografie. So hatten im Jahr 2020 bei den Kindern unter fünf Jahren beispielsweise vier von zehn Kindern eine Migrationsbiografie (40,3%). Noch größer sind die Unterschiede auf der Ebene der Bundesländer: In Bremen hatten 2020 fast zwei Drittel der unter 6-Jährigen eine Migrationsbiografie (64,3%), in Sachsen waren es bei dieser Altersgruppe lediglich 15,2 Prozent (Bundeszentrale für politische Bildung 2020).
Diese Familien bilden einen heterogenen Bevölkerungsteil. Darunter sind Arbeitsmigrant*innen und ihre Familien, aber auch Student*innen, Asylbewerbende und Flüchtlinge, Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Aussiedler*innen usw. Der Sozialisationsprozess findet innerhalb der Familien unterschiedlich statt, je nach kultureller und ethnischer Herkunft.
Viele von diesen Familiensystemen/-strukturen leben traditionell, sodass Kollektivität und Individualität einander gegenübergestellt werden. Das Individuum besitzt als Mitglied eines Haushalts bestimmte Rechte, ihm obliegen aber auch bestimmte Pflichten innerhalb des Haushalts.
Die Menschen werden in Großfamilien oder andere Wir-Gruppen hineingeboren, die sie schützen müssen und in der sie geschützt werden. Dadurch wird ihre Identität bestimmt. Die Kinder lernen, in der Erziehung in Wir-Begriffen zu denken, bemühen sich, die Harmonie zu bewahren, und vermeiden die direkten Auseinandersetzungen. Die Anpassung an vorgegebene Rahmenbedingungen (Kultur und Religion) stellt eins der Hauptziele der Erziehung dar. Die Menschen wachsen heran, um ausschließlich für sich selbst und ihre direkte (Kern-)Familie zu sorgen.
Die Paarbeziehung wird am Anfang durch gegenseitige Bemühungen gekennzeichnet. Die Qualität der Beziehung zwischen den Eheleuten wird sich im Laufe der Zeit entwickeln. Man wird versuchen, den/die Partner*in nicht zu enttäuschen, weil man sich auf eine gemeinsame Zukunft eingelassen hat. In traditionellen Kreisen wird die Ehe mehr durch die Erfüllung von Rollen als durch die bestehende Beziehung des Paares bestimmt.
Es wird versucht, Konflikte durch die Einbeziehung älterer Familienmitglieder zu lösen. In solchen Vermittlungsgesprächen geht es um Versprechungen bezüglich der Verhaltensveränderungen und um „wieder zur Vernunft kommen“.
Sollten die Konflikte dadurch nicht gelöst werden können, so werden religiöse oder andere Personen aus dem Umfeld einbezogen. Allerdings ist das oft mit starken Schamgefühlen verbunden, und die Vermittlungen orientieren sich nicht an den Konflikten des Paares, sondern geben verschleiert vor, dass die Ehe durch Geduld, Selbstrücknahme und Einsicht wieder fortgeführt werden kann/sollte (Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan).
Die Beratung von Familien mit Migrationsbiografie verlangt von den Fachkräften der Erziehungsberatungsstellen unterschiedliche Kompetenzen. Dazu gehören sowohl eine wertschätzende und vorurteilsfreie Haltung, Kenntnisse über kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Habitus der Klient*innen als auch die Fähigkeit, über die Sprachkenntnisse hinaus zu kommunizieren und sich zu verständigen.
Die Fallzahlen für die Beratung von Familien in Trennungs- und Scheidungssituationen nehmen in den Erziehungs- und Familienberatungsstellen weiter zu. Diese Fälle sind inhaltlich komplex und erfordern eine gute Zusammenarbeit sowie Vernetzung zwischen den Fachkräften in unserem komplexen Hilfesystem.
Die betroffenen Familien erhalten in dieser schwierigen und belastenden Lebensphase unterschiedliche Hilfsangebote. Meistens handelt es sich dabei um eine Krisenbewältigung, weil sich das Familienleben durch die Trennung und/oder Scheidung der Eltern stark verändert. Neben den emotional hohen Belastungen müssen die Familien sich auch finanziellen Herausforderungen stellen.
Die Kinder sind traurig und verunsichert. Ihre Eltern zeigen gegenseitig wenig bzw. kaum Vertrauen, sind gekränkt, agieren und reagieren misstrauisch.
Viele getrennte und/oder geschiedene Eltern und ihre Kinder erleben die Phasen dieser Familienkrise sehr unterschiedlich. Sie brauchen entsprechend ihrer Bedürfnisse Unterstützung, damit sie sich in der neuen Situation orientieren können, die Kontrolle nicht verlieren, damit die Krisensituation kein Dauerzustand wird. Die Zugehörigkeit zu der eigenen Gesellschaftsgruppe stellt in dieser Lebensphase fast den einzigen Stützpunkt dar.
Getrennte und/oder geschiedene Eltern mit ausländischen Wurzeln fühlen sich besonders verunsichert, weil sie sich für die Bearbeitung ihrer Konflikte bzw. für die Bewältigung ihrer schwierigen Lebensphase an einem Hilfesystem orientieren müssen, das auf anderen Werten als den ihren aufgebaut ist. Dies führt dazu, dass sie das Gefühl des Andersseins noch stärker spüren. Sie sind fremd und anders. Sie gehen davon aus, dass niemand sie verstehen und ihnen helfen kann. Sie agieren/reagieren dadurch noch verunsicherter und misstrauischer. Sie haben Angst davor, dass diese Krisensituation zum Dauerzustand wird. Die Konflikte werden zum Teil als das Anliegen der jeweiligen Großfamilie gesehen und erfordern ein breites Handlungsspektrum der zuständigen Fachkräfte.
Auch wenn die Anzahl von Trennungs- und/oder Scheidungsfällen bei Familien mit Migrationsbiografie im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung nicht so hoch ist, stellt sich diese Lebensphase für die betroffenen Familien als besonders schwierig dar, weil sie meistens mehrere Kinder haben, wodurch die Bewältigung des normalen Alltags herausfordernd erlebt wird. Darüber hinaus befinden sich diese Familien eher durch ein schwaches Bildungsniveau und eine hohe Arbeitslosigkeitsrate in belastenden sozioökonomischen und -kulturellen Lebenslagen.
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