Fachbeitrag

LAG-Interview zum Thema: YouTube, Instagram und Co.
Erziehungs- und Familienberatung als kinderrechtliches Korrektiv? Interview zum Fachartikel „Pädagogischer family vlog oder pseudofamilialisiertes Homeshopping?“

Redaktion: Herr Sawatzki, Sie haben sich mit Studierenden im Seminar u.a. mit dem Phänomen der zunehmenden Selbstinszenierung – auch von Familien — auf Kanälen wie Instagram und Youtube beschäftigt. Wie würden Sie dieses Phänomen allgemein beschreiben?

Sawatzki: Grundsätzlich ist dies zunächst kein Trend, der primär den Bereich Familie betrifft. Vielmehr erleben wir seit einigen Jahren eine zunehmende Öffnung des Privaten nach Außen über Kanäle wie Youtube, Instagram und Co. durch Blogs, Storys oder – videobasierte — Vlogs. Egal ob es Fitness, Lifestyle, Gesundheit, Beauty, Fashion, Technik oder Unterhaltung ist. Die Formate schaffen schnelle Zugänge, Nähe und Verbindung, was grundsätzlich ja durchaus positiv ist und zum Beispiel von sozialen Einrichtungen noch viel zu wenig genutzt wird. Vielfach übersehen wird jedoch die zum Teil subtile Kommerzialisierung und letztendlich ökonomische Durchdringung: Vordergründig scheint es nur um Follower, Ansehen und fetzige, selbstlose Tipps für den Alltag zu gehen – hintergründig aber natürlich um Werbung, Kooperationen und Geld. Viel Geld. Was bis in die 2000er hinein das Tele- und Homeshopping war, ist heute deutlich ansprechender und smarter über diese Kanäle abrufbar. Dies erkennen auch Unternehmen und Digitalkonzerne durch z.B. Werbetracking. Insofern sind viele Inhalte media-
le, werbebasierte Dienstleistungsformate, die man unterstützen, gut finden und nutzten kann – oder eben nicht.
Redaktion: Und wie ist diese dynamische Entwicklung zu erklären? Mittlerweile hat man den Eindruck, dass immer mehr Leute versuchen, Teil dieses Trends zu sein.
Sawatzki: Dies lässt sich nicht eindeutig beantworten. Ein Grund ist sicherlich der menschliche Drang nach Bestätigung von außen: Bin ich wirklich toll? Werde ich von anderen bewundert? Bin ich etwas wert? Habt ihr mich lieb? Damit verbunden sein kann ein eher fragiler Selbstwert – sonst hätte man all diese Bemühungen womöglich gar nicht nötig? Dies gilt aber natürlich nicht für alle Menschen, die auf diesen Kanälen aktiv sind. Dennoch können diese Formate unser Belohnungssystem ansprechen und sogar – wie der Kollege Stephan Rietmann mal so schön formulierte — unser Verhalten algorithmisch durch gezielte Aufmerksamkeitsfokussierung (z.B. Likes, Kommentare, Verlinkungen) modifizieren.

Redaktion: Was treibt die Menschen denn jenseits dieser psychischen Motive an?

Sawatzki: Geld, Wohlstand und ein scheinbar sorgenfreies, sicheres und glückliches Leben. Das checken auch die Jugendlichen. Was früher der Profi-Fußballer war, ist heute der Youtuber/Instagramer. Über die sozialen Kanäle bekomme ich den möglichen Erfolg und Wohlstand sogar noch unmittelbarer vor Augen geführt: Da werden Hausführungen durch die neu erstandene Villa gemacht, frisch konfigurierte Sportwagen vorgeführt und die neuste Edel-Technik präsentiert. All das finanziert offensichtlich durch den Erfolg auf den Kanälen, die ich mir jeden Tag als Jugendlicher reinziehe und deren Persistenz ich durch meine Klicks erst möglich mache. Das schafft natürlich Nachahmer. Auch viele (werdende) Elternteile sehen darin (z.B. in der Elternzeit) eine attraktive Nebenbeschäftigung und bleiben dann aufgrund der finanziellen Lukrativität dort hängen, bewerben subtil und mit Gutscheincodes entsprechende Produkte für andere (potentielle) Eltern. Das Besondere an diesen Formaten: Es handelt sich dabei nicht zwingend um Menschen mit besonderen Gaben und Talenten, sondern um normale Menschen, die uns mit zum Teil völligen Alltagsnormalitäten – Einkaufen, Kochen, Kinderbetreuung — konfrontieren und durch deren Tag begleiten. Dabei wird suggeriert: Wenn du dich mit einer cleveren Idee vermarktest und Follower findest, dann kannst du das auch schaffen. Und das ist streng genommen dann ja auch ein Talent. Alle wollen irgendwie fame werden. Letztendlich ist es dabei aber wie beim Lotto: Es kann zwar jeder Millionär werden, aber nicht alle. Grundsätzlich kann man diese Formate nun gut, peinlich, belanglos oder auch nicht finden. Problematisch wird es für mich als Pädagoge und Erziehungsberater erst dann, wenn Kinder in dieses Geschäfts- und Selbstinszenierungsmodell mit einbezogen und zur Steigerung von Aufmerksamkeit, Klicks und letztendlich Geld missbraucht werden.

Redaktion: Das passiert dann über Family-Vlogs oder Storys und Posts von InstaMoms/Dads. Warum sind die denn problematisch? Vielleicht helfen die Tipps mir als Elternteil doch sogar?

Sawatzki: Hier muss differenziert werden. Sicherlich bieten viele Family-Vlogs und Instagram-Blogs mit ihren Posts und Storys auch Orientierungen, Tipps und Anregungen für den eigenen familiären Alltag, so wie Alltagsberatung in der Familie und unter Freunden. Dagegen ist auch grundsätzlich nichts einzuwenden, wobei auch hier die Grenzen nichtprofessioneller Angebote zu professionellen (wie z.B. einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle) beachtet werden sollten. Nicht alles was dort an Tipps gegeben wird, ist auch pädagogisch sinnvoll und auf die eigene Familie übertragbar. Dies ist letztendlich ja auch die Stärke von professioneller Erziehungsberatung: Das Suchen nach individuellen Lösungen, die aber in der Regel eben mehr Zeit als ein paar Klicks und Kommentare auf Instagram benötigen. Und ganz nebenbei: Viele landen mit ihren Fragen zunehmend auch bei kommerziellen Anbietern von Beratung – meist unscheinbar und zuckerweich verpackt in digitalen Kummerkästen und pseudofreundschaftlichen (mit Werbung gespickten) Diskussions-Posts für Eltern. Eine Beratung kostet dann schnell pro Stunde mal 100 Euro. Ziemlich unnötig, wenn man die für Ratsuchende kostenlose Versorgung durch örtliche Erziehungsberatungsstellen bedenkt – vielleicht sind diese aber auf jenen Kanälen noch nicht so aktiv und bekannt? Auch die Qualifikationen sind im Internet häufig fragwürdig: Da tauchen dann gerne mal uneindeutige von konkreten Lebenslaufdaten losgelöste Floskeln auf wie „Pädagogin und selbst Mutter von zwei Kindern“. Ob dies allein zu professioneller Erziehungsberatung qualifiziert? Eher nicht. In den Beratungsstellen vor Ort hingegen sind einschlägige Qualifikationen und Standards des Personals sichergestellt und transparent.

Redaktion: Warum schauen sich die Leute diese Vlogs, Storys und Blogs überhaupt an? Ich meine: Putzen, Kochen, Windeln wechseln, Spielen – damit hat man doch als Elternteil selbst jeden Tag zu tun, oder? Und das ist doch auch sehr privat? Oder ist gerade das der Grund für die Beliebtheit?

Sawatzki: Die Nutzungsmotive können sehr vielfältig sein. Neben dem hilfreichen Orientierungsaspekt („Wie machen andere das denn?“), den ich gerade angesprochen habe, können natürlich auch Unterhaltung, neugieriger „Voyeurismus“ oder ein gewisser Eskapismus relevant sein: Ich fliehe quasi aus meinem eigenen, stressigen Alltag in ein anderes Leben. Brutal nur, wenn man dabei als Blogger*in und/oder als Konsument*in das Leben und die Bedürfnisse der eigenen Kinder aus dem Blick verliert oder alles dem Bloggen untergeordnet wird. Der ganze Alltag wird dann durch diese Formate bestimmt. Was die Dauerpräsenz und -beobachtung durch die Videokamera mit der kindlichen Entwicklung macht, ist noch nicht erforscht. Problematisch erscheint dabei auch die Selektivität der Darstellung: Alles ist in der Regel schön und perfekt vom tollen Einfamilienhaus, übers Auto bis hin zu teuren Spielzeugen und perfekt erzogenen und mit mehreren Hobbys ausgelasteten, super kreativen und gebildeten Kindern. Dies kann durchaus zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben und zu Selbstzweifeln hinsichtlich der eigenen Elternschaft führen. Vieles auf diesen Kanälen ist selektiv, geschönt und zum Teil auch klick- und damit geldgenerierender Fake. Unvergessen bleibt mir in diesem Zusammenhang der Beitrag einer deutschen Satire Seite, die titelte, dass – gemessen an den Posts auf Instagram — die Mehrheit der Menschen in Deutschland offensichtlich in Luxus schwelgende Multimillionäre sind.
Redaktion: Wie ist denn die Darstellung der Kinder auf diesen Kanälen zu bewerten?
Sawatzki: Stumpf gesagt halte ich es für egoistisch und respektlos, denn auch Kinder haben ein Recht am eigenen Bild! Viele Eltern kommen hier ihrer Verantwortung die eigenen Kinder zu schützten auf einer naiven Art und Weise nicht nach, ordnen Kinderrechte ihren eigenen Bedürfnissen unter oder flüchten sich in legitimatorische Pseudo-Partizipation: „Ich habe mein Kind ja gefragt, es möchte das ja“. Wie soll ein Kind bitte selbst die Tragweite und Konsequenzen eines Videoblogs auf Youtube oder einer Story auf Instagram einschätzen können? Man lässt das Kind ja auch nicht mit dem Fahrrad auf die Autobahn, nur weil es das vielleicht cool findet. Wir betreten hier völlig neue Dimensionen: Auch früher wurden Bilder in der Familie gemacht, die dann aber maximal in der analogen Fotokiste oder im Familienalbum gelandet sind. Das Internet hingegen hat eine unglaubliche Dynamik, birgt selbstdarstellerische Verlockungen und – vergisst nichts! Kürzlich erst hat die ARD-Sendung Panorama recherchiert, dass sehr viele Alltagsfotos und Dateien von Kindern über Plattformen wie Youtube, Facebook, Instagram und auch Whatsapp abgegriffen und auf kinderpornographischen Seiten verbreitet werden. Hier muss sich jede InstaMom bzw. jeder InstaDad zu Recht die Frage gefallen lassen: Möchte ich, dass die Bilder meines Kindes (ob mit oder ohne verpixeltem Gesicht) für pädosexuelle Interessen genutzt werden? Die Antwort darauf sollte eindeutig – Nein — sein.

Redaktion: Aber es ist doch auch schön, wenn Eltern mit Ihren Kindern digitale Medien und deren Möglichkeiten im Alltag zusammen nutzen. Und auch Bilder und Videos zu machen, ist doch für Kinder keine grundsätzlich schlechte Sache!

Sawatzki: Nein, ist es grundsätzlich natürlich nicht. Gerade neue Medien und digitale Tools eigenen sich hervorragend zum Spielen, zur Interaktion zwischen Eltern und Kind und zum gemeinsamen kreativ sein, wenn man z.B. an die Möglichkeit von Tablets und Greenscreens zum Drehen von eigenen Filmen oder dem Fotografieren in der Natur denkt. Zudem fördert es die Medienkompetenz von Kindern. Es braucht hier also eine wichtige Differenzierung zwischen Privat und Öffentlich. Ähnlich wie ein privater Konflikt nicht in die Öffentlichkeit gehört, haben private Bilder und Videos von schutzbedürftigen und noch nicht vollkommen entscheidungsfähigen Kindern nichts in der Öffentlichkeit zu suchen. Der digitale Weg erleichtert vieles und ist natürlich praktisch. Wenn es mir aber um die Nutzung des Internets als Datenübermittlungs-Tool geht, brauche ich kein Instagram und Co. Diese sind aus datenschutzrechtlichen Gründen ohnehin fragwürdig. Es gibt auch sichere Online-Tools und Fotobibliotheken, die in der Familie zum Teilen genutzt werden können. Dazu braucht es keinen regelmäßigen, öffentlichen Videoblog. Falls doch, bleibt der Verdacht nicht aus, dass es eben nicht um den smarten Austausch von Bildern der Kinder und Enkelkinder geht, sondern um elterliche und persönliche Selbstdarstellung, finanzielle und egozentrische Interessen. Derartige digitale Aktivitäten sollten stets frei von kindlicher Instrumentalisierung und an den Bedürfnissen des Kindes orientiert sein und nicht an denen der Eltern.

Redaktion: Wie können Erziehungs- und Familienberatungsstellen denn hier unterstützen, um auch langfristig mehr für die Thematik zu sensibilisieren?

Sawatzki: Hier sehe ich zwei Entwicklungsrichtungen: Zum einen die eigene, professionelle Nutzbarmachung jener Kanäle (z.B. im Rahmen von Öffentlichkeitsarbeit und der smarten Erreichung von Eltern) durch die Erziehungs- und Familienberatungsstellen und zum anderen die sensible Thematisierung von Kinderrechten und Elternverantwortung. Insbesondere letzterer Aspekt scheint zentral, um nicht nur interventiv sondern auch präventiv Eltern – aber auch Kinder und Jugendliche — kritisch und reflexiv zu stärken. Darüber hinaus braucht es mehr öffentliche Auseinandersetzung in Fachdiskurs, Gesellschaft und Politik. Kinderrechte dürfen nicht den Klicks und finanziellen Interessen der eigenen Eltern zum Opfer fallen. Abschließend bleibt der Appell an die Eltern: Reflektieren Sie Ihre Motive für die öffentliche Inszenierung Ihrer Familie und Kinder. Wozu dient diese und können Sie dies mit Blick auf die Risiken wirklich verantworten? Wie hätten Sie es als Kind oder rückblickend gefunden, wenn Ihre Eltern Bilder von Ihnen in der Öffentlichkeit verbreitet hätten? Was glauben Sie werden Ihre Kinder davon halten, wenn sie älter sind? Eltern sollten hier nicht länger kopflos und naiv agieren, sondern sich mit diesen Fragen selbstkritisch und verantwortungsvoll auseinandersetzen. Erziehungs- und Familienberatungsstellen können hier ein kinderrechtliches Korrektiv und elterliche Reflexionshilfe sein.

Redaktion: Da würden wir definitiv zustimmen – Vielen Dank für das Gespräch!

Referent:in

Maik Sawatzki
Erziehungswissenschaftler/Sozialpädagoge M.A., Systemischer Berater (SG), Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der WWU Münster. Seminarleitung „Professionalität in der Erziehungsberatung“

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