Als eine der Hilfen zur Erziehung nach § 27 SGB VIII gehört es zu den grundlegenden Aufgaben von Erziehungsberatungsstellen, dem Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung gerecht zu werden, wenn im Verlauf der Beratung gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen wahrgenommen werden oder wenn eine Beratung als Hilfe nach einer Gefährdungseinschätzung eingesetzt wird.
Von allen Hilfen zur Erziehung stellt die Erziehungsberatung bundesweit die häufigste Hilfeform dar (z.B. im Jahr 2017: 314.256 Fälle von insgesamt 592.767)2 Außerdem ist sie die Hilfe zur Erziehung, die mit Abstand den höchsten Anteil an Hilfen aufgrund familiärer Konflikte aufweist (49 % der Nennungen bei den Gründen zur Hilfegewährung).3 Auch wenn hier weit überwiegend Fälle eine Rolle spielen, in denen Kindeswohlgefährdung aktuell nicht feststellbar ist, sehr wohl aber ein Hilfe- und Unterstützungsbedarf gesehen wird, so wird in diesen Zahlen deutlich, welche Bedeutung das Angebot der Beratungsstellen für die Verhinderung von und für die Hilfe bei Kindeswohlgefährdungen hat.
Dieser Artikel möchte verdeutlichen, wo Besonderheiten und Herausforderungen in der Praxis der Beratung in Kinderschutzfällen liegen, und er möchte ermutigen, entsprechende Angebote in der Zukunft auszubauen.
Vielfach sind Beratungsstellen erste Anlauf- und Kontaktstellen für betroffene Kinder- und Jugendliche, ihre Familien oder andere nahestehende Personen sowie für professionelle Helfer*innen auch in Situationen, in denen Kinder gefährdet sind oder zu sein scheinen. Kinder und Jugendliche können sich auch ohne Wissen der Eltern an Beratungsstellen wenden.4 Der vertrauliche und offene Ansatz erleichtert Familien und Kindern den Zugang, die Angst haben vor den Folgen eines Eingriffs in ihre Familie oder vor den Reaktionen in ihrem Umfeld. Das hohe Maß an interdisziplinärer Fachlichkeit und an Erfahrung qualifiziert Erziehungsberater*innen besonders, Kinder und Eltern auch in schwierigen konflikthaften Beziehungskonstellationen zu begleiten und die Gespräche in diesem Kontext gleichermaßen wohlwollend und konfrontativ zu führen.
Als Angebot der Jugendhilfe und aufgrund des Rückhalts in einem multidisziplinären Team können Fachkräfte in Beratungsstellen dieser Aufgabe eher gerecht werden als niedergelassene Psychotherapeut*innen.
Erziehungsberatung ist vor allem wichtig, wenn es um die Abwendung von Gefährdungen für Kinder und Jugendliche geht, die noch nicht so zugespitzt sind, dass massive, in die Familie eingreifende Interventionen notwendig werden. So gibt es viel Erfahrung in der Erziehungsberatung im Umgang mit emotionaler Vernachlässigung und seelischen Verletzungen von Kindern und Jugendlichen – oft auch in Situationen, die unterhalb der Schwelle zur Kindeswohlgefährdung im engeren Sinn anzusiedeln sind. Wobei hier anzumerken ist, dass zwar bei ASD und Familiengericht nach wie vor Zurückhaltung bei der Bewertung psychischer Misshandlung als Gefährdung festzustellen ist, die Forschung der letzten Jahre allerdings zunehmend deutlich macht, (Kindler 2009, 2006), dass diese Form der Misshandlung ebenso nachhaltige schädliche Folgen (v.a. im psychiatrischen Bereich) nach sich zieht wie andere Formen.
Besonders genannt sei auch die Belastung von Kindern und Jugendlichen durch die Konflikte ihrer Eltern untereinander, im Extrem durch hochstrittige Eltern im Trennungsgeschehen oder auch durch häusliche Gewalt – Konflikte die in der Praxis vieler Beratungsstellen eine große Rolle spielen.
Wichtig kann aber auch ein Beratungsangebot für Eltern bei der vorübergehenden oder dauerhaften Fremdunterbringung eines Kindes sein – hängt doch der Erfolg der Maßnahme sowie die Möglichkeit einer Rückführung ganz wesentlich von einer Begleitung der Eltern ab, die auch ihr Erleben und dessen Verarbeitung mit einbezieht.
Kinderschutz im professionellen Kontext von Beratung und Therapie beschäftigt sich mit unterschiedlichen Formen von Gewalt, durch die Kinder in ihren Familien oder in ihrem Umfeld physisch und psychisch verletzt werden, in ihrer Entwicklung Schaden nehmen und in manchen Fällen zu Tode kommen. Dazu zählen neben seelischen, körperlichen und sexuellen Misshandlungen auch alle Formen der Kindesvernachlässigung. Die Vernachlässigung ist laut einer Unicef-Studie (2003) die häufigste Form von Gewalt gegen Kinder mit Todesfolge.
Darüber hinaus gehören dazu weitere Risikobedingungen für eine Gefährdung des Kindeswohls, etwa in besonderer Weise belastete familiäre Bedingungen: Familien mit substanzabhängigen oder anders psychisch beeinträchtigten Eltern, Eltern mit eigenen traumatischen Gewalterfahrungen, hochstrittige oder gewalttätige Konflikte zwischen Eltern vor und nach einer Trennung, arme Familien in prekärer sozioökonomischer Lage, geflüchtete und zugewanderte Familien mit kulturell bedingt gewaltgeprägten Erziehungsmethoden oder mit schweren psychischen Beeinträchtigungen durch Fluchterfahrungen.
Nach Einschätzung der befragten Jugendamts-Fachkräfte in der Studie »Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz« sind aktuell Vernachlässigung (48,7 %), seelische Misshandlung (13,2 %) und das »Kind als Objekt von Erwachsenenkonflikten « (10,4 %) die am häufigsten genannten Gefährdungslagen von Kindern und Jugendlichen (Seidenstücker, Münder 2019, S. 10). Elterliche Auseinandersetzungen bei Trennung und Scheidung sind auch die Konflikte, die in Erziehungsberatungsstellen zurzeit eine besondere Rolle spielen.
In der Folge mehrerer erschütternder Vorfälle v.a. in NRW in den letzten Jahren, von denen zahlreiche Kinder betroffen sind, gilt aktuell eine besondere Aufmerksamkeit der sexualisierten Gewalt gegen Kinder. Hier sind in Öffentlichkeit, Politik und der Fachwelt mit Nachdruck Forderungen nach quantitativen und qualitativen Verbesserungen in der Strafverfolgung wie in den Hilfeangeboten laut geworden.
Die intensive Arbeit mit Kindern und Familien in der Beratung kann dazu beitragen, nicht nur aufmerksamer für Beziehungsverhältnisse zu sein, um Kinder besser zu schützen, sondern auch um der Entwicklung unterschiedlicher Formen von Gewalt zum Schaden von Kindern durch Verstehen und entsprechend frühe Hilfen bzw. Maßnahmen vorzubeugen bzw. abzuhelfen.
Gewalt gegen Kinder ist häufig mit Konflikten im Kontext eines mehrgenerationalen Beziehungssystems verbunden. (vgl. Blum-Maurice/ Pfitzner 2014). Eine besondere Rolle spielen dabei die primären Bindungserfahrungen der Eltern und deren Auswirkungen auf ihre Persönlichkeit und Beziehungsfähigkeit in der Gegenwart. In diesem Zusammenhang werden Kinder in ihren Familien zu überforderten Adressaten von Bindungswünschen ihrer Eltern, leiden unter negativen Zuschreibungen, die der elterlichen Konfliktvermeidung dienen, werden offen oder subtil zur Parteinahme für ein Elternteil und gegen das andere aufgefordert, müssen für emotionale oder sexuelle Wünsche zur Verfügung stehen oder übernehmen versorgende Funktionen für ihre Eltern (Parentifizierung). Auf diese Weise müssen Kinder Funktionen der Konflikt- und Spannungsregulation für ihre Eltern übernehmen oder ihnen werden erwachsene Bedürfnisse übergestülpt, mit denen sie aufgrund ihrer mangelnden Reife überfordert sind. Die daraus resultierende Frustration der Eltern steigert wiederum die Wahrscheinlichkeit gewalttätigen Verhaltens den Kindern gegenüber. In vielen Fällen finden sich hier transgenerationale Wiederholungen von Verletzungen, die den Eltern selbst in ihrer Vergangenheit zugefügt wurden. Auch wenn in ihrer Kindheit misshandelte oder vernachlässigte Eltern sich oft wünschen, ihren Kindern andere Erfahrungen ermöglichen zu können, sind sie in ihren Fähigkeiten, sich empathisch und autonom auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einzustellen, doch oft erheblich eingeschränkt, vor allem dann – das lehrt die Resilienzforschung –, wenn sie zu wenig alternative positive Beziehungserfahrungen machen konnten.
Neben den familiendynamischen Faktoren spielen soziale Belastungen eine entscheidende Rolle. Beide bedingen sich gegenseitig, oft findet eine wechselseitige Verschärfung der Situation statt. Hoher psychischer Stress erschwert Erwerb, Aufbau und Inanspruchnahme sozialer Ressourcen und hoher sozialer Stress verschärft psychische Not und Beziehungskonflikte.
Was dazu beiträgt, dass eine erschreckend hohe Zahl von Erwachsenen und zunehmend auch von Jugendlichen Interesse daran hat und bereit ist, Kinder sexuell auszubeuten und zu schädigen, – und dazu gehören bei weitem nicht nur Menschen mit pädosexueller Orientierung -, ist eine Frage die dringend gründlicher und offener erforscht werden muss. Auch hier geht es nicht nur um Aufdeckung und Schutz, sondern auch um Verstehen, Verändern und Verhindern.
Nachdem Gewalt gegen Kinder in der Familie als Problem lange Zeit kaum wahrgenommen oder gar verleugnet wurde, sind die Themen der Kindeswohlgefährdung und der Gewalt in Familien heute ein medial, politisch und fachlich weithin durchgesetztes Schwerpunktthema gesellschaftlicher Diskurse und staatlichen Handelns.
Gesellschaftliche Erwartungen kommen zum Ausdruck im gesetzlich verankerten Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung (BGB §1631.2) sowie der vorrangigen elterlichen Verantwortung für die Erziehung und den Schutz des Kindeswohls, die aber dem staatlichen Schutz und der staatlichen Aufsicht unterliegt (GG Art.6). Die öffentliche Verantwortung für die Entwicklung und den Schutz von Kindern wird praxisorientiert umgesetzt mit den Bestimmungen des SGB VIII: dem Anspruch von Kindern auf Förderung ihrer individuellen und sozialen Entwicklung, dem Anspruch von Eltern auf Hilfe zur Erfüllung ihrer elterlichen Pflichten, und dem Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung.
Die zum Teil aufgeregte gesellschaftliche Debatte über familiale Gewalt, die sich oft an spektakulären, bewegenden Einzelfällen festmacht, stellt einen Erwartungszusammenhang für die Haltung und das Handeln professioneller Helfer her, dem sich niemand entziehen kann. Bei der Beratung von Familien, Eltern und Kindern geht es daher nicht nur um die Beziehung zwischen Beratenden und Klienten und um die inhärente schwierige Balance zwischen Neutralität bzw. Allparteilichkeit und dem professionell-ethischen Engagement für die Kinder als Schutzbedürftige, vielmehr übernehmen die Beratenden durch den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung öffentliche Verantwortung, aus der heraus sie gegenüber der Familie und dem öffentlichen Hilfesystem und ggf. auch gegenüber der Öffentlichkeit Position beziehen müssen.
Einige Konsequenzen der Ausgangsbedingungen für den Zugang zu betroffenen Familien seien hier genannt:
Dieser Kontext bestimmt die Haltungen und Erwartungen an Beratung und Hilfe auf Seiten der Klienten wie auf Seiten der Berater ganz erheblich mit.
Als typisch für den Zugang und die Anfangsphase von Beratung kann in der Folge festgehalten werden:
Eine beraterische systemische Perspektive hat nicht nur die Gefährdung von Kindern in ihren Familien im Blick, sondern auch die Gefahr für Eltern, an ihrer Verantwortung den Kindern gegenüber gewalttätig zu scheitern. Eine Konzen-
tration auf das verletzende oder vernachlässigende Verhalten d.h. das Gewalthandeln im engeren Sinne reicht hier nicht aus. Die Erfassung der Ursachen und Gründe solcher Entwicklungen erfordert die Analyse verschiedener biografischer und aktueller Faktoren und die Integration mehrerer Blickwinkel.
Außerdem muss es dem/ der Beratenden gelingen, eine Haltung engagierter und reflexiver Distanz zugleich gegenüber der starken affektiven Aufladung einzunehmen, die zwangsläufig mit allen Formen von Gewaltandrohung und -handeln einhergeht und die auch die Helfer einbezieht.
Trotz aller Belastungen und Einschränkungen, die sich
aus einer u.U. mehrdimensionalen psychosozialen Mangel- und/ oder Konfliktsituation ergeben, betrachtet eine systemische Sichtweise die Eltern grundsätzlich als verantwortliche und verantwortungsfähige Akteure. Entsprechend ihrem jeweiligen Entwicklungsstand gilt das auch für Kinder und Jugendliche. Mit der Betonung auf Verantwortung wird eine zukunftsorientierte Sicht ermöglicht, die auf alternative Handlungsmöglichkeiten aller Beteiligten fokussiert, statt durch die Betonung von Schuld die Beteiligten auf Täter und Opfer zu reduzieren und dadurch eine Entwicklung zu verhindern. Allerdings müssen die Unzulässigkeit des Gewalthandelns und die Verantwortung dafür deutlich benannt werden.
Es ist unumgänglich, sich in der beraterischen oder therapeutischen Beziehung normativ zu positionieren, d.h. mit den Eltern und je nach Alter mit dem Kind deutlich zu klären, dass die Beratungsvereinbarung eine Verantwortung des/ der Beratenden für den Schutz des Kindeswohls beinhaltet und dass gegebenenfalls das Jugendamt informiert werden muss, wenn in der eigenen Arbeit nicht genug Sicherheit hergestellt werden kann. Unter Beachtung der erforderlichen Vertraulichkeit wird in der überwiegenden Zahl der Fälle eine transparente Kooperation mit anderen Institutionen des Hilfesystems stattfinden.
Die Beratungsbeziehung muss in diesen Fällen einen Spagat zwischen Förderung und Einschränkung der Klientenautonomie vollziehen. Um Entwicklungen zu fördern, die einen reiferen Umgang mit Beziehungen und den Verzicht auf Gewalt ermöglichen, ist es notwendig, die Eltern als Subjekte anzusprechen und ihre Autonomiebedürfnisse ernst zu nehmen. Auch wenn unzweideutig klar sein muss, dass ihre gefährdenden oder verletzenden Handlungen nicht tolerierbar sind, ist es wichtig, sie spüren zu lassen, dass sie als Kundige für ihre aktuelle Familiensituation ernst genommen werden und ihre Erlebensweisen und Beziehungsbeschreibungen als subjektive Wahrheiten respektiert werden.
Gleichzeitig kann es im Interesse der Sicherheit der Kinder notwendig sein, Interventionen zum Schutz der Kinder zu billigen oder selbst zu initiieren, was die Autonomie der Eltern zwangsläufig einschränkt und mitunter zu heftigen affektiven Reaktionen führen kann.
Dieses Beziehungsparadox sollte als in der Beratung zu bewältigendes Dilemma angenommen und immer wieder erläutert werden. Eine Aufteilung von Zuständigkeiten im Hilfesystem für kontrollierenden Kinderschutz (z.B. auf Seiten des Jugendamts) einerseits und unterstützender Beratung der Familie (auf Seiten der Beratungsstelle) andererseits birgt das Risiko von Identifikationen mit jeweils nur einer Seite sowie einer potentiellen Kampf- und Ausgrenzungsdynamik auch unter Helfern, in der das Spannungsfeld der Beziehungen zwischen Liebe und Gewalt (vgl. Borst u. Lanfranchi 2011) aus den Augen verloren zu gehen droht.
Erforderlich ist eine Haltung der Zuwendung und Aufmerksamkeit für alle Familienmitglieder, hohe Ambiguitätstoleranz für wechselhafte und oft genug von Rückschlägen und Enttäuschungen begleitete Entwicklungen und angemessene Entschlossenheit im Benennen der Risiken und der zu erreichenden Ziele. Ein flexibles Vorgehen mit den verschiedenen Beteiligten (z.B. unterschiedliche Settings, Beteiligung mehrerer Berater*innen) ist dabei von besonderer Bedeutung. Teamarbeit und Supervision haben hier einen besonders hohen Stellenwert und sind für Einschätzungen und Hilfeentscheidungen ohnehin unabdingbar. Die Analyse von möglichen Fehleinschätzungen, aber auch von bewährten Verfahren und gelungenen Schritten sollte permanent erfolgen, nicht erst dann, wenn eine Verschlechterung der Situation des Kindes zu beobachten ist.
Die beraterische Arbeit mit gewaltbelasteten Familien erfordert einen langen Atem, schrittweises Vorgehen, geduldiges und wiederkehrendes Hinweisen auf Lösungen und Kompetenzen sowie zeitnahe Krisenhilfen. Vor allem in Fällen von Kindesvernachlässigung erfordert die Arbeit die Übernahme von Verantwortung für das Zustandekommen von Terminen und Prozesskontinuität auf Seiten der Berater*innen. Auch in der Arbeit mit zunächst nicht freiwilligen Klienten kann auf diese Weise Vertrauen in einen begleiteten Prozess und Motivation zu Beziehungs- und Verhaltensänderungen entstehen, die dazu führen, dass Eltern entweder die Verantwortung für den Schutz und die Versorgung ihrer Kinder übernehmen oder aber einer Fremdunterbringung im Interesse der Kinder zustimmen können (und ihnen damit den Schmerz und die oft lebenslange Belastung durch eine strittige und bekämpfte Trennung ersparen).
Vor dem Hintergrund der Erfordernisse in der Praxis tun Erziehungsberatungsstellen sich aus verschiedenen Gründen schwer mit dem Thema der Kindeswohlgefährdung. Einige seien hier genannt:
Freiwilliger Zugang und Vertraulichkeit der Hilfebeziehung und der Inhalte der Beratung sind wesentliche Standards der Erziehungsberatung. Dem scheint der Kontrollaspekt des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung und der Zwangscharakter einer in diesem Kontext begonnenen oder weitergeführten Beratung entgegen zu stehen. Außerdem ist zu Recht zu befürchten, dass das Bekanntwerden dieser Aufgabe und dieser Praxis anderen Familien und Kindern den Zugang zur Beratung erschwert.
Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet nur ein von Anfang an offener und transparenter Umgang mit diesem Auftrag und mit seinen Konsequenzen sowie eine klare Kommunikation, welche Beratungsinhalte der Vertraulichkeit unterliegen und welche nicht. Kommunikation mit anderen Stellen im System der Hilfe und des Schutzes sollte nach Möglichkeit im Beisein immer aber mit Wissen der Familie stattfinden.
Aus Mangel an entsprechender Qualifikation, rechtlichem Wissen und erforderlichem Rückhalt in einem Netzwerk entsteht Unsicherheit im Umgang mit Fällen, in denen es gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung gibt: bei einzelnen Berater*innen, im Team, in der Leitung oder auf institutioneller Ebene und es gibt die Tendenz, entsprechende Fälle nicht anzunehmen bzw. weiterzuverweisen. Das ändert sich, wenn einzelne Berater*innen entsprechende Qualifikationen erworben haben, aber sie und das Team brauchen auch einen entsprechenden institutionellen Rückhalt.
Dazu gehört auch der Umgang mit institutionellen und persönlichen Befürchtungen, welche Verantwortung übernommen wird mit der Beteiligung an einem Kinderschutzfall, wie viele Fälle die Beratungsstelle und einzelne Mitarbeiter*innen tragen können und welcher institutionelle und supervisorische Rückhalt dafür erforderlich ist? Auch die Planung der Verteilung von Fällen hängt davon ab – meist dulden Kinderschutzfälle keinen Aufschub. Es ist eine wichtige Aufgabe von Leitung und Supervision, hier auf die Schwere von Fällen und die Kompetenz und Belastbarkeit von Berater*innen zu achten, ggf. für eine zusätzliche Qualifikation und Kapazität zu sorgen, aber auch, Fälle, die nicht zum Profil der Beratungsstelle passen, qualifiziert weiter zu verweisen.
Im Kinderschutz ist zunächst die konkrete Kooperation mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes von zentraler Bedeutung. Die gemeinsame Verantwortung in der Zusammenarbeit endet nicht mit dem Einbezug der jeweils anderen Institution – sei es, dass sie von der Beratungsstelle im Verlauf der Gefährdungseinschätzung initiiert wird oder dass das Jugendamt Erziehungsberatung als neu einzuleitende Hilfe plant.
Darüber hinaus ist oft die Kooperation mit verschiedenen Akteuren aus unterschiedlichen Funktionsbereichen notwendig. Neben dem Jugendamt und anderen Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe, des Bildungs- und des Gesundheitswesens muss auch das mögliche Zusammenwirken mit dem Familiengericht und ggf. der Strafjustiz berücksichtigt werden. Wenn Erziehungsberatungsstellen im Kinderschutz mitarbeiten, dann müssen sie auch bereit sein, für dieses Zusammenwirken bei Bedarf zur Verfügung zu stehen, und klare fachliche Kriterien dafür zu entwickeln.
Betont werden muss in diesem Zusammenhang, dass die Jugendhilfe (und ggf. das Familiengericht) für die Förderung und Sicherung des Kindeswohls zuständig sind. Sie bleiben in dieser Verantwortung, auch wenn z.B. ggf. eine medizinische Diagnose erforderlich ist oder gleichzeitig eine Strafverfolgung stattfindet. V.a im Umgang mit den Strafverfolgungsbehörden besteht eine Verunsicherung und Missverständnisse, was Fachkräfte der Jugendhilfe tun müssen und dürfen.6 (s. hierzu: FAQ zu Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen (DIJuF 2020) in diesem Heft).
Einige Erziehungsberatungsstellen übernehmen die Funktion der insoweit erfahrenen Fachkraft auch für andere Institutionen. Über die reine Gefährdungseinschätzung hinaus geht es dabei auch um die Begleitung der Fachkräfte z.B. in einer Kindertagesstätte, wie sie in schwierigen Situationen mit den Eltern ins Gespräch kommen können.
Häufig stehen zu beratende Institutionen zumindest subjektiv unter Zeitdruck, deshalb muss die Gefährdungseinschätzung zeitnah erfolgen. „Teams von Erziehungsberatungsstellen sind gefordert, ihre üblicherweise längerfristig geplanten Arbeitsabläufe strukturell auf diese Notwendigkeit einzustellen.“
Dazu sind allerdings klare Bedingungen für die Dienstleistung und eine zusätzliche Finanzierung erforderlich. Bisher ist noch immer nicht geregelt, welche Qualifikation und welche institutionellen Rahmenbedingungen für dieses Angebot mindestens erforderlich sind. Und bisher erhalten Beratungsstellen auch nur in Ausnahmefällen zusätzliche Mittel für Stellen, um diese wichtige Aufgabe verlässlich anbieten zu können.
Fälle von sexualisierter Gewalt stellen Beratungsstellen vor besondere Herausforderungen. So ist z.B. das Ziel der Diagnostik bei Verdachtsfällen nicht, einen Verdacht im Sinne der Strafverfolgung abzuklären, sondern die Situation des Kindes in den Blick zu nehmen und dessen was es jetzt braucht. Das muss aber gegenüber anderen Erwartungen im Hilfesystem oder auch gegenüber Strafverfolgungsinstanzen immer wieder klargestellt werden. Hier stellen sich auch Fragen, ob mit Verdächtigten gesprochen werden kann/ soll, wenn sie Teil der Familie sind. Insbesondere bei den vielen unklaren Fällen im „Graubereich“ müssen Beratungsstellen hier eine eigene Haltung entwickeln, die die Dynamik des jeweiligen Einzelfalls berücksichtigt.
Erkenntnisse aus den Untersuchungen der zahlreichen Fälle von sexueller Ausbeutung von Kindern in Familien, Netzwerken und Institutionen der letzten Jahre machen deutlich, dass hier ein besonderer Bedarf an Spezialisierung der Beratung und spezifischer Qualifizierung auch der Fachberatung besteht (Fegert 2020). Insofern ist ein Ausbau und eine Konsolidierung von Spezialberatungsstellen unbedingt erforderlich, aber auch eine verstärkte Sensibilisierung und Qualifizierung von Fachkräften in der Erziehungsberatung
Natürlich muss jede Beratungsstelle in Abhängigkeit von Ausstattung, Konzept, Situation vor Ort und Finanzierungsmöglichkeiten erwägen, in welchem Umfang und mit welchen Angeboten sie für Kinderschutzaufgaben zur Verfügung stehen kann und will. Aber einige aktuelle Beobachtungen und Erkenntnisse sind Anlass, die Beratungsstellen zu ermutigen, sich noch stärker aktiv einzubringen, um ihre Rolle im Kinderschutz auszubauen.
Von besonderer Bedeutung sind deshalb in diesem Bereich Fachkräfte, die die Zeit und die Kompetenz haben, Vertrauen aufzubauen und gründlich mit dem Kind und seinem Umfeld zu erarbeiten, was jetzt gebraucht wird. Hier können Erziehungsberater*innen eine dringend erforderliche Funktion übernehmen!
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